Neue Studie:
UMGANGSRECHT: GEWALT WIRD NICHT ERNST GENOMMEN
Beratungserfahrungen von Alleinerziehenden im Familienrecht
(Grafik von vectorjuice auf Freepic)
Hilden, 30. April 2024 – Belastende Umgangsregelungen, intransparente Gerichtsentscheidungen und zu wenig Berücksichtigung von Partnerschaftsgewalt – das
ergibt eine neue Studie der Stiftung Alltagsheld:innen in Kooperation mit der Universität Bielefeld, die heute veröffentlicht wurde. Die Kooperationsstudie „Beratungserfahrungen bei
Trennung und Scheidung aus der Perspektive von Ein-Eltern-Familien vor dem Hintergrund von Familien- und Kindschaftsrecht“ beleuchtet einen in der deutschen Forschung bisher wenig bearbeiteten Bereich.
Die Ergebnisse
Befragt wurden ratsuchende Elternteile zu ihren Beratungserfahrungen im Familienrecht, die sich an die Rechtshotline für Alleinerziehende der Stiftung Alltagsheld:innen gewandt
hatten. Am häufigsten wurden Fragen zur Regelung des Umgangs (60%) sowie des Unterhalts (52%) als Beratungsanlässe genannt, gefolgt von Regelungen des Sorgerechts
(39%) und konfliktträchtiger Beziehung mit evtl. Gewaltvorkommnissen (37%). Die qualitativen Ergebnisse fasst der Forschungsbericht in acht Thesen zusammen und leitet
daraus Handlungsempfehlungen ab. Die Befunde dokumentieren eine empfundene Intransparenz familienrechtlicher Entscheidungen sowie einen konfliktär erlebten
Zusammenhang von Umgangs- und Unterhaltsrecht. Ebenso werden eine mangelhafte Berücksichtigung von erlebter Partnerschaftsgewalt in sorge- und umgangsrechtlichen
Fragen und eine mangelnde systematische Berücksichtigung der Kinder und ihrer Wünsch deutlich.
Auffällig sind zudem als unzutreffend erlebte Zuschreibungen gegenüber Müttern durch Gerichte, Jugendämter und Beratungsstellen, die auf masukulinistische Narrative
rekurrieren. Beteiligte Fachkräfte scheinen zudem die Vater-Kind-Beziehung zu fokussieren,ohne die Belastbarkeit der Mutter-Kind-Beziehung dabei einzubeziehen.
„Überrascht hat uns der Befund, dass die Mutter-Kind-Beziehung von allen Beteiligten als grenzenlos belastbar vorausgesetzt wird – auch von den befragten Müttern selbst“, berichtet Studienleiterin Barbara Thiessen, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Beratung und Geschlecht an der Universität Bielefeld.
Die aus den Ergebnissen abgeleiteten Handlungsempfehlungen betreffen u.a. eine kontinuierliche und selbstkritische Reflexion von Leitbildern zu ‚guter’ Mutter- bzw.
Vaterschaft, die verstärkte Schulung und Sensibilisierung des Fachpersonals zu Partnerschaftsgewalt sowie der Vorrang von Gewaltschutz vor Umgangsrechten.
Studienleiterin Thiessen: „Die explorative Kurzstudie gibt Hinweise auf aktuelle Problemlagen und institutionelle Defizite, die nicht zuletzt auf strukturell verankerte
Geschlechtermuster zurückzuführen sind. Sie sollte als empirischer Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen gelesen werden.“ Thiessen empfiehlt Forschung z.B. mit stärkerem
Fokus auf Kindeswohl sowie Rechtsfolgenforschung ausgehend von den real gelebten Arbeitsteilungsmustern im Familienleben vor Trennung.
Heidi Thiemann, geschäftsführende Vorständin der Stiftung Alltagsheld:innen, ergänzt: „Die Ergebnisse zeigen die hohe Verunsicherung von Alleinerziehenden, ausgelöst durch die bestehende Familienrechts- und Beratungspraxis. Sie bestätigen die langjährigen Erfahrungen von Praktiker:innen und Alleinerziehenden und kontextualisieren sie wissenschaftlich.
Die abgeleiteten Handlungsbedarfe sollten Rechts- und Beratungspraxis sowie die Gesetzgebung in ihren Reformvorhaben ernst nehmen.“
Die im Rahmen der Studie evaluierte Relevanz der Rechtshotline verweist auf einen hohen Bedarf an niedrigschwelliger, spezialisierter Rechtsberatung für Alleinerziehende im
Familienrecht. Die Rechtshotline der Stiftung Alltagsheld:innen wurde von rund 80 Prozent der befragten Proband:innen als (sehr) hilfreich beurteilt. Studienleiterin Thiessen: „Einige
der Probandinnen hatten durch die Rechtshotline erstmals Kontakt zum Rechtssystem. Das zeigt, wie wichtig solche niedrigschwelligen Angebote sind.“
Die Kurzstudie wertet mit Hilfe eines Mixed Method Designs die Lebenssituation und daraus resultierende Beratungs- und Unterstützungsbedarfe von Nutzer:innen und
Interessent:innen der kostenlosen Rechtsberatungshotline für Ein-Eltern-Familien (https://www.hotline-familienrecht.de) der Stiftung Altagsheld:innen aus. Dazu wurden
quantitative Daten von 131 rechtlich ratsuchenden Elternteilen erhoben, die entweder bereits Beratung durch die Rechtshotline erhalten hatten oder auf deren Warteliste eingetragen sind. Zudem wurden 14 vertiefte qualitative Interviews mit Elternteilen und zwei Expert:inneninterviews mit Anwält:innen der Rechtshotline durchgeführt.
Der Forschungsbericht steht unter https://alltagsheldinnen.org/studieberatungserfahrungen-einelternfamilien-familienrecht-kindschaftsrecht-hotline zum Dowload bereit.
Über die Rechtshotline
Die erste bundesweite Hotline Familienrecht für Alleinerziehende wurde 2022 von der Stiftung Alltagsheld:innen ins Leben gerufen und seither anteilig aus eigenen sowie Mitteln der CMS Stiftung realisiert. In ihr beraten einmal die Woche auf Familienrecht spezialisierte Anwält:innen zu Fragen im Umgangs-, Sorge-, Unterhalts- und Abstammungsrecht.
Stiftung Alltagsheld:innen
Die gemeinnützige Stiftung Alltagsheld:innen setzt sich dafür ein, dass Alleinerziehende mit ihren Kindern selbstbestimmt, finanziell wie rechtlich abgesichert und frei von Diskriminierung leben können Die Stiftung wirkt auf gesellschaftliche Veränderungen hin – für eine geschlechtergerechte, menschenwürdige und diverse Welt.
Anfang 2021 gestartet ist sie die erste bundesweite Stiftung, die sich für die Rechte von Alleinerziehenden einsetzt. Dazu fördert und initiiert sie u.a. innovative Projekte, möchte Themen und Impulse setzen, Netzwerke stärken, initiiert und unterstützt wissenschaftliche Untersuchungen zu den verschiedenen Bedarfen von Ein-Eltern-Familien. Die Stiftung ist gemeinnützig und nicht profitorientiert. Der Stiftungssitz ist in Hilden, Nordrhein-Westfalen. www.alltagsheldinnen.org