Liebe Bezirksstadträtin Mirjam Blumenthal,
Wie schön, dass Sie sich die Zeit nehmen und uns in der Alleinerziehenden-Gruppe im
FaNN besuchen. Auf diesem Wege möchten wir über das Kennenlernen hinaus wichtige
Impulse für die Politik setzen und bitten Sie, unsere Forderungen und Wünsche in
Zukunft auch in Ihrer politischen Arbeit zu berücksichtigen.
Wer sind wir?
● Wir sind Frauen, also Mamas und queere Eltern, die Kinder haben und ihre
Kinder überwiegend allein erziehen.
● Wir bezeichnen uns ganz unterschiedlich, als Alleinerziehende, Solomamas,
Einelternfamilien, Getrennterziehende und teil-alleinerziehende Eltern.
● Wir sind Frauen aus unterschiedlichen Orten, einige von uns kommen aus
anderen Ländern, wir sprechen viele Sprachen und was uns fast alle eint ist,
dass unsere Herkunftsfamilien oft nicht in Berlin leben.
● Wir alle haben mindestens ein Kind, viele haben noch Kleinkinder oder Babys.
Unsere Bedürfnisse sind unterschiedlich, sie orientieren sich an dem
unterschiedlichen Lebensalter der Kinder. Es gibt Frauen, die mehrere Kinder
haben und noch weiteren, sehr individuellen Bedarf in unserer Gruppe haben.
Was beschäftigt uns?
● Beim Amtsbesuch oder beim Ausfüllen von Antragsformularen, immer begegnen
uns Familienbilder die uns nicht als Familie erkennen. Wir werden verpflichtet,
uns zu Fragen zu verhalten, die sich um den biologischen Vater drehen.
Von einer Familie in Deutschland wird erwartet, dass es zwei Eltern hat,
idealerweise Mutter, Vater und Kind oder Kinder. Das wird abgefragt in Anträgen
auf den Kita-Gutschein, auf Wohngeld, Kindergeld, in der Steuererklärung, usw.
Letzten Endes prägen die Anträge den Umgang der Sachbearbeiter:innen mit
uns. So erleben wir oft Misstrauen zu unseren Angaben, wir müssen uns
rechtfertigen zu unserer Situation. Abwertende Kommentare und strukturelle
Diskriminierung hat jede schon von uns erlebt.
Das durch die Politik kommunizierte Familienbild extrahiert uns und
problematisiert das Leben unserer Familien.
● Egal ob selbstständig oder angestellt, auch hier erleben wir oft Barrieren auf
unserem Weg in die selbst-verwaltete ökonomische Sicherheit. Anstatt aktive
Entlastung zu erfahren, müssen wir vergrößerten Belastungen standhalten als
Eltern, die sich allein um ihre Kinder sorgen. Ein paar Beispiele:
Kinderkrankentage (weniger Einkommen), Elternzeit (wird nicht mal im TVöD als
Stufenlaufzeit anerkannt und bringt aktiv weniger Geld und Verschlechterung des
ökonomischen Status), Vereinbarkeit von Familie und Beruf (hat keinen Bestand
in vielen Organisationen), Eingewöhnung in der Kita (ja, da werden wir komplett
allein gelassen), Schichtdienst und Arbeitszeit außerhalb der regulären
Betreuungszeiten (wer macht da die Kinderbetreuung?), und es gibt viele mehr.
● Unsere Lebensqualität wird weiter gemindert, wenn es um gesunde Ernährung,
Sport und gesundheitliche Vorsorge geht. Uns und unseren Kindern ist unsere
mentale und körperliche Gesundheit sehr wichtig, aber welche Ressourcen
stehen uns zur Verfügung und wann bekommen wir dafür Zeit? Zudem verdienen
wir zu wenig, um gesunde Bio-Lebensmittel zu kaufen und es gibt keine
Angebote, die in unserer Situation auf unsere Fitness und Gesundheit eingehen.
● Insbesondere für Einelternfamilien, Alleinerziehende ohne zweites Elternteil und
Solomamas, deren Herkunftsfamilien nicht in Berlin leben, haben alle
vorhergehenden Punkte gravierende Auswirkungen auf die Lebensqualität. Hinzu
kommen noch die Tage, an denen unsere Kinder krank sind und wir funktionieren
müssen.
Die Politik erwartet von uns, dass wir unter diesen Bedingungen unsere Kinder zu
zukünftigen Leistungsträger:innen der ganzen Gesellschaft erziehen. Wir sind erschöpft
und politische Strukturen nehmen das billigend in Kauf.
Unsere Wünsche und Forderungen an Sie und somit an die Politik in Neukölln:
Wir haben viele Wünsche und noch mehr Forderungen, hier möchten wir Ihnen die
akutesten drei Themen mitgeben. Zu jedem Punkt kann jede von uns mindestens eine
Geschichte erzählen. Bitte holen Sie uns mit ins Boot der politischen Arbeit und halten
Sie uns dazu auf dem Laufenden!
1. Wir wünschen uns, dass sich das von der Politik propagierte Familienbild
modernisiert (Fußnote1)
.
2. Wir fordern, dass in dringender Not und für Arbeitssituationen außerhalb der
regulären Kitabetreuungszeiten ein flexibler, kostenloser und niedrigschwelliger
Kinderbetreuungs-Dienst für Alleinerziehende eingerichtet wird (ähnlich wie an
der Uni für Dozent:innen, also ohne komplizierte Antragszeit und
Rechtfertigungen.)
3. Wir fordern, dass alle Arbeitgeber:innen verpflichtet werden, die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf umzusetzen und eine Monitoringstelle eingerichtet wird,
die bei Verstößen vermitteln kann.
VOR ALLEM WIR WÜNSCHEN UNS EINEN FEMINISTISCHEN UMGANG(Fußnote 2) MIT DEN
LEBENSREALITÄTEN VON MUTTERSCHAFT IN NEUKÖLLN!
Alleinerziehenden-Gruppe im FaNN, Neukölln Berlin, 15. Mai 2022
Fußnote 1: Im Koalitionsvertrag 2021-2025 unter Kapitel V. sind bereits Bestrebungen für eine Modernisierung des
Familienbildes beschrieben, doch werden dort Leistungen und Entlastungen für Alleinerziehende immer nur mit
den Brückenworten “entsprechend anpassen” erwähnt. Auf Alleinerziehende wird nicht konkret eingegangen,
Alleinerziehend bedeutet für uns nicht nur Getrennterziehend.
Fußnote 2: Feministischer Umgang in der Politik bedeutet für uns Inklusion aller Menschen und ihrer Lebensrealitäten mit
dem Ziel Gerechtigkeit und fairen Zugang zu Ressourcen zu schaffen. Oder wie Mareice Kaiser schreibt: “Politik
muss gemacht werden für die erwerbstätige alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, eins davon
pflegebedürftig. Wenn diese Mutter gut von ihrer Erwerbsarbeit leben kann, genug Zeit für ihre Kinder und sich
selbst hat, erst dann haben wir eine Chance auf Macht – und Geld – für alle.“
(Foto: privat)