Behörden, Beratungsstellen und Justiz nehmen Partnerschaftsgewalt oft nicht ernst genug, sagen zwei neue Studien. Im Mittelpunkt stehen Sorgerecht und Umgangsregelungen.
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/gewalt-nach-der-trennung-jugendamter-und-familiengerichte-schutzen-mutter-und-kinder-oft-nicht-ausreichend-11627339.html; Grafik: vectorjuice auf freepic
Gewalttätige Männer, die Vergeltung für eine Trennung üben, indem sie ihren Frauen die Kinder mithilfe eines Familiengerichts „wegnehmen“ – wie verbreitet ist dieses Phänomen? Wie behandeln Jugendämter Mütter, die sich aus einer gewaltvollen Beziehung befreit haben? Und werden Kinder in diesem Zusammenhang gefährdet? Dazu gab es bislang kaum aussagekräftige Daten. Nun geben zwei neue Studien Anhaltspunkte, dass es für Frauen und Kinder in solchen Situationen oft ziemlich düster aussieht.
Mütter, die sich wegen häuslicher Gewalt von ihrem Partner trennen, sowie ihre Kinder erhielten danach oft keinen ausreichenden Schutz von staatlichen Institutionen wie Jugendämtern und Familiengerichten. Das schließt die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes aus einer jetzt veröffentlichten Studie, bei der rund 1000 Mütter befragt wurden, die nach eigenen Angaben Opfer von häuslicher Gewalt durch ihren Partner waren. „Die Gewaltspirale dreht sich für viele Frauen nach einer Trennung an staatlichen Institutionen weiter“, sagt Johanna Wiest, Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt bei Terre des Femmes, die die Studie verantwortet.
90 Prozent der befragten Mütter gaben an, diskriminierende Erfahrungen mit staatlichen Institutionen gemacht zu haben. „Konkret werden an Jugendämtern und in Familiengerichten Gewalterfahrungen missachtet, während Mütter und Väter völlig ungleich behandelt werden“, sagt Wiest. „Die befragten Mütter machen die Erfahrung, dass Behörden und Gerichte Väterrechte über das Kindeswohl stellen und den Willen ihrer Kinder nicht berücksichtigen.“
Die Mehrzahl der befragten Frauen gab weiter an, dass Ihnen ihr Partner nach der Trennung damit gedroht habe, das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder vor einem Familiengericht entziehen zu lassen. 44 Prozent der Frauen teilten mit, ihnen sei daraufhin tatsächlich das Sorgerecht gerichtlich entzogen worden. 16 Prozent der befragten Frauen gaben, dass ihre Kinder daraufhin zum gewalttätigen Vater unplatziert worden seien. In 54 Prozent dieser Fälle sei dies gegen den Willen der Kinder geschehen.
Eine 43-jährige Berliner Mutter, die an der Studie teilgenommen hat, gab auf ihrem Fragebogen an, ihr gewalttätiger Ex-Partner habe ihr nach der Trennung damit gedroht, sie mit einem Gerichtsverfahren zum Sorgerechtsentzug zu „bestrafen“. Und das habe wie geplant funktioniert: Ihr Kind sei von einem Berliner Familiengericht zum Vater unplatziert worden, gegen seinen Willen und den der Mutter. „Mein Sohn und ich sind gebrochen durch das, was der Vater uns mithilfe der Institutionen antut“, schrieb sie auf den Fragebogen. Die durch ihren Ex-Partner initiierten familiengerichtlichen Streitigkeiten hätten sie außerdem rund 50.000 Euro gekostet.
Häusliche Gewalt in Deutschland
Immer mehr Männer müssen ausziehen oder Abstand halten, weil sie ihrer Partnerin Gewalt angetan beziehungsweise angedroht haben. Das zeigt das Lagebild zur häuslichen Gewalt 2022 des Bundeskriminalamts. Demnach stieg die Zahl der erfassten Tatverdächtigen im Zusammenhang mit Straftaten, bei denen das Gewaltschutzgesetz Anwendung fand, in den vergangenen fünf Jahren um elf Prozent auf 6587 Tatverdächtige im Jahr 2022. Von den Tatverdächtigen waren 91,7 Prozent männlich. Laut der Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) führten 17 Tatverdächtige eine Schusswaffe mit sich.
Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 240.547 Opfer von häuslicher Gewalt gezählt – 8,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Zahl der Tatverdächtigen stieg auf 197.348. Derzeit läuft eine Dunkelfeldstudie zur Partnerschaftsgewalt, die untersuchen soll, wie groß das Problem tatsächlich ist. (dpa)
„Die Ergebnisse lassen erkennen, dass Umgangs- und Sorgerechtsangelegenheiten von gewalttätigen Ex-Partnern instrumentalisiert werden, um Nachtrennungsgewalt auszuüben“, sagt Wiest von Terre de Femmes.
In der Studie gaben 56 Prozent der Frauen an, die Väter hätten gerichtlich Umgang mit den Kindern erwirkt, obwohl die Mütter das nicht für sicher hielten. Dabei wird oft nicht berücksichtigt, dass es schon eine Kindeswohlgefährdung darstellt, wenn Kinder zusehen müssen, wenn der Vater die Mutter misshandelt hat. Für Kinder sei es „schädlich, wenn sie häusliche Gewalt miterleben mussten“, sagt Carsten Löbbert, Sprecher der Fachgruppe Familienrecht der Neuen Richtervereinigung.
Wir haben es mit einem ganzen System zu tun, das Vorurteile gegen Frauen hegt, sie gezielt benachteiligt.
Johanna Wiest, Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt bei Terre des Femme
Eine weitere für die Studie befragte Mutter wandte sich nach der Trennung von ihrem gewalttätigen Partner Hilfe suchend an das Jugendamt. Doch Unterstützung habe sie bei der Behörde nicht bekommen: „Mir wurde zu verstehen gegeben, dass das Jugendamt mit ,Beziehungsproblemen’ nichts zu tun hat, und nur für Kindschaftssachen zuständig ist. Mir wurde gesagt, ich müsse das trennen, die Beziehungsebene und die Kindschaftssache. Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun.“ Auch wenn er ihr gegenüber sexuell gewalttätig war, „könne er trotzdem ein guter Vater sein“, habe sie zu hören bekommen.
Hilfetelefon
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ berät von Gewalt betroffene Frauen unter der Rufnummer 116 016 und online auf hilfetelefon.de zu allen Formen von Gewalt – rund um die Uhr und kostenfrei. Die Beratung erfolgt anonym, vertraulich, barrierefrei und in 18 Fremdsprachen. Auf Wunsch vermitteln die Beraterinnen an eine Unterstützungseinrichtung vor Ort. Auch Menschen aus dem sozialen Umfeld Betroffener und Fachkräfte können das Beratungsangebot in Anspruch nehmen.
Auch die Universität Bielefeld hat kürzlich eine aktuelle Studie veröffentlicht, deren Ergebnisse in eine ganz ähnliche Richtung weisen. Im Auftrag der Stiftung Alltagsheld:innen kamen die Wissenschaftler hier zu dem Ergebnis, dass „belastende Umgangsregelungen, intransparente Gerichtsentscheidungen und zu wenig Berücksichtigung von Partnerschaftsgewalt“ ein ernst zunehmendes Problem Alleinerziehender darstellen würden. „Die explorative Kurzstudie gibt Hinweise auf aktuelle Problemlagen und institutionelle Defizite, die nicht zuletzt auf strukturell verankerte Geschlechtermuster zurückzuführen sind. Sie sollte als empirischer Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen gelesen werden,“ berichtet Studienleiterin Barbara Thiessen.
Mangelnde Gleichstellung
Beide Studien beleuchten einen in der deutschen Forschung bisher kaum untersuchten Bereich. Sie sind in einen Kontext mangelnder Gleichstellung einzuordnen, von der besonders Mütter betroffen sind. So sind laut dem Statistischen Bundesamt über 80 Prozent aller Alleinerziehenden Mütter, aber nur rund 25 Prozent der Väter zahlen vollen Unterhalt.
„Eltern-Kind-Entfremdung“
Der Begriff Parental Alienation Syndrome (PAS) wurde 1985 vom US-amerikanischen Kinderpsychiater Richard A. Gardner eingeführt. Er war der Meinung, dass wenn Kinder ein Elternteil ablehnen, immer Manipulation durch das andere Elternteil der Grund ist. Das Kind müsse dann erst recht viel Zeit mit dem ungeliebten Elternteil verbringen. Heute ist sich die Wissenschaft einig, dass dieses Syndrom nicht existiert und es sich um eine veraltete und kinderfeindliche Theorie handelt. Trotzdem berufen sich Anwälte, Jugendamtsmitarbeiter, Gutachter und Richter in Deutschland immer wieder darauf. Dutzende Kinder werden zu Elternteilen gezwungen, bei denen sie laut eigener Aussage auf keinen Fall sein wollen. Der kindliche Wille wird als angeblich manipuliert abgetan.
Auch der Begriff „Bindungsintoleranz“ wird in diesem Zusammenhang gebraucht.
„Es geht nicht um Einzelfälle, und das Problem ist auch nicht ein einzelner Richter, der kurz vor der Rente steht und gerade nicht aufgepasst hat. Hier geht es um strukturelle Gewalt an Frauen in staatlichen Institutionen. Wir haben es mit einem ganzen System zu tun, das Vorurteile gegen Frauen hegt, sie gezielt benachteiligt“, sagt Johanna Wiest. „
Diskreditierung der Mütter
Die Referentin bei Terre des Femmes war selbst von häuslicher Gewalt betroffen und weiß, wie herausfordernd diese Situation für Frauen sein kann. So hat mehr als jede zweite gewaltbetroffene Mutter in Umgangs- und Sorgerechtsangelegenheiten Diffamierungen und Vorurteile bei Behörden erlebt, das ermittelt die Studie. „Dabei werden unwissenschaftliche Narrative wie ,Eltern-Kind-Entfremdung’ oder ,symbiotische Mutter-Kind-Beziehung’ eingesetzt, die der Diskreditierung der Mütter dienen. Das führt das zu einer starken psychischen Belastung bei den betroffenen Frauen, einer Schädigung des Kindeswohls, dem Verlust des Glaubens an den Rechtsstaat und zu einer fortgesetzten Gewaltausübung durch den Ex-Partner.“